Kinder in den Kuhstall – Schmuddel-Hypothese: Dreck schützt vor Allergien

In ihrem Kampf gegen die Volkskrankheit Allergie setzen Wissenschaftler auf eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Form der Prävention: den Schmutz. „Wer im Kindesalter Kontakt mit ungefährlichen Keimen hat, erkrankt später nicht so oft an Allergien“, lautet ihre Hypothese.

Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, erkranken 15-mal seltener an Heuschnupfen und Asthma als Kinder aus nicht bäuerlichen Familien.

Immer mehr Experten vertreten die Auffassung, dass bestimmte Infekte in früher Kindheit vor Allergien schützen. So fanden Forscher an der Berliner Charité heraus, dass Säuglinge, die im ersten Lebensjahr häufig Schnupfen haben, später seltener an Asthma erkranken. Eine weitere Studie zeigte, dass Kinder, die schon im Alter von einem Jahr eine Kindertagesstätte besuchten, ein deutlich weniger allergieanfälliges Immunsystem aufwiesen als Altersgenossen, die erst später Kontakt zu Kindern hatten.

Auch der Vergleich zwischen Land- und Stadtkindern bestätigt die „Schmuddel-Hypothese“. Danach erkranken Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, 15-mal seltener an Heuschnupfen und Asthma als Kinder aus nicht bäuerlichen Familien. Fazit der Leiterin der Studie, Dr. Erika von Mutius: „Kinder, die im ersten Lebensjahr überdurchschnittlich oft im Stall waren, leiden wesentlich seltener an Allergien.“ Die Untersuchung habe gezeigt: Je intensiver der Stallaufenthalt war, desto ausgeprägter war der schützende Effekt.

Fitnesstraining für das Immunsystem

Das Spielen im Schmutz gilt nicht nur als Brutstätte für Keime und Krankheiten, sondern dient auch als Fitnessprogramm fürs Immunsystem. „Das natürliche Abwehrsystem des Menschen ist lernfähig und muss trainiert werden“, betont Professor (emeritus) Jürgen Knop, ehemaliger Direktor der Hautklinik an der Universität Mainz und langjähriges Vorstandsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAI).

Allerdings müsse ein gewisser Hygienestandard eingehalten werden, um gefährliche Infektionskrankheiten zu vermeiden, fügt er hinzu. Durch den frühen Kontakt zu ungefährlichen Keimen würden die sogenannten T-Helfer-1-Lymphozyten (TH1-Zellen) aktiviert. Bei Allergikern besteht ein Ungleichgewicht zwischen TH1- und TH2-Lymphozyten. TH1-Zellen und TH2-Zellen sind Untergruppen bestimmter weißer Blutkörperchen. Sie unterscheiden sich durch die von ihnen jeweils produzierten Entzündungsfaktoren (Zytokine). TH1-Zellen sind an der Immunabwehr von Bakterien, Viren oder Pilzen beteiligt, während TH2-Zellen mit einer Immunantwort auf Würmer reagieren.

„Die TH1-Zellen können sich an Erreger erinnern und vermehren sich bei einem erneuten Kontakt mit diesem Erreger sehr schnell“, erklärt Professor Knop die Vorteile einer möglichst frühen Konfrontation mit potenziellen Allergenen. „Zudem blockieren diese Helferzellen des Immunsystems die T-Helfer-2-Lymphozyten“, nennt der Experte eine zweite wichtige Eigenschaft der TH1-Zellen. Ungebremst führen die T-Helfer-2- Zellen zu den eigentlichen allergischen Reaktionen, indem sie eine immunologische Kettenreaktion auslösen, an deren Ende Histamin ausgeschüttet wird, das für den entzündlichen Verlauf einer Allergie verantwortlich ist. Aktive TH1-Zellen unterdrücken diesen Prozess und damit die allergische Reaktion.

  • Da die Forderung „Kinder in den Kuhstall“ zwar interessant, aber angesichts der Lebensumstände der meisten Stadtkinder wenig praktikabel erscheint, suchen Forscher nach Alternativen, mit denen sie die fehlende natürliche Bakterienflora imitieren können.

Den besorgniserregenden Anstieg von Allergien – ein Drittel aller Menschen in Deutschland leidet inzwischen an Heuschnupfen, Asthma, Neurodermitis oder anderen Symptomen eines irregeleiteten Immunsystems – führen Experten wie der Allergologe Knop zum großen Teil auf die Lebensumstände zurück. In einer Umgebung, die – wie in westlichen Haushalten zunehmend üblich – mit Desinfektionsmitteln möglichst keimfrei gehalten werde, würden die T-Helfer-1-Zellen weder gefordert noch trainiert und zudem hätten die T-Helfer-2-Zellen freie Bahn.

Da die Forderung „Kinder in den Kuhstall“ zwar interessant, aber angesichts der Lebensumstände der meisten Stadtkinder wenig praktikabel erscheint, suchen Forscher nach Alternativen, mit denen sie die fehlende natürliche Bakterienflora imitieren können. Als Trainingspartner fürs Immunsystem werden derzeit ungefährliche Bakterien bzw. deren Produkte erprobt, so der Mainzer Experte.

Anton Wilder